Die Petersberger Gespräche 2012
Die Weisheit des Bauches – oder: Wer entscheidet hier eigentlich? Liquid Democracy – oder Renaissance des klassischen Managements?
Stephan Huthmacher
Stellen Sie sich vor, Ihre Mitarbeiter stimmen direkt und für jeden sichtbar über kleinere und größere Unternehmensentscheidungen ab. Sie bringen Vorschläge für neue Maßnahmen nicht nur ein, sondern überwachen und kontrollieren darüber hinaus kollektiv die Umsetzung mehrheitlich beschlossener Maßnahmen. Wäre eine solche Unternehmensführung für Sie ein Traum – oder eher ein Alptraum? Lösung oder Problem?
Diese Methode gibt es, und zwar nicht nur in der Piratenpartei. Daher ist die Frage mehr als nur hypothetisch: Wo stehen Sie als Führungskraft auf der Skala von Mitsprache und Dezentralisierung auf der einen und direktivem Entscheiden auf der anderen Seite? Wie ist Ihr Verhältnis zur Macht und wie setzen Sie sie um?
Diese Standortbestimmungsfrage mag einen kleinen Vorgeschmack auf die Themen geben, über die wir bei den diesjährigen Petersberger Gesprächen sprechen werden. Dazu gehören neben der Frage nach dem Verhältnis zwischen Liquid Democracy und klassischem Management auch das Spannungsfeld zwischen Kopf und Emotion, die Bedeutung von Intuition und Bauchentscheidung sowie der Spagat zwischen Planung und agiler Autonomie, wie er heute als Cutting-Edge-Ansatz im von Innovationen geprägten Umfeld zunehmend zu finden ist.
Gibt es überhaupt den Balanceakt zwischen Liquid Democracy und klassischem Management, zwischen dezentraler Mitgestaltung und zentraler Entscheidung? Lassen sich die beiden Pole in einem ganzheitlichen Konzept vereinen, das sowohl Bottom-up-Prozesse berücksichtigt als auch zugleich Top-down-Entscheidungen zulässt und somit Führung überhaupt erst möglich macht? Zugespitzt: Ist so etwas wie eine "Liquid Leadership" denkbar? Falls ja, wäre eine solche Synthese tatsächlich motivierend und wettbewerbskritisch? Kann sie Komplexität gestalten und Innovationen fördern – oder erstarrt sie im bequemen Niemandsland indifferenter Mehrheitsentscheidungen? Wo gefährdet ein Zuviel an Autonomie den Zusammenhalt im Unternehmen – und welche Folgen und Auswüchse kann ein Zuwenig haben? Wie schafft man hier die Balance?
Impressionen Petersberger Gespräche 2012
Die nächste Stufe der radikalen Selbstorganisation: Liquid Feedback bei SYNAXON
Die IT-Verbundgruppe SYNAXON hat seit sieben Jahren Wikis im Einsatz, in denen nicht nur jeder alles sehen, sondern in denen auch jeder alles ändern kann, ohne dass er dafür eine Freigabe braucht. In diesem Wiki hat es bei durchschnittlich 130 Mitarbeitern über 400.000 Änderungen in Organisationsdokumenten gegeben. Dabei ist es nicht ein einziges Mal zu einer Änderung gekommen, bei der Führungskräfte eingreifen mussten. Im Wiki kann nur unter echtem Namen gearbeitet werden. Nun hat SYNAXON die Software Liquid Feedback eingeführt. Hier können alle Mitarbeiter sicher und anonym Initiativen einbringen und darüber abstimmen lassen. Die Unternehmensleitung hat sich verpflichtet, erfolgreiche Initiativen umzusetzen. Sie hat sich lediglich ein Vetorecht eingeräumt. Im Vortrag wird über die Erfahrungen der ersten sieben Monate seit Einführung berichtet.
Fairness in Ökonomie und Gesellschaft: Wie treffen wir Entscheidungen?
In einer von Krisen geprägten Zeit spielen die Prinzipien von Fairness und Vertrauen nur noch eine untergeordnete Rolle. Damit jedoch nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Markt- und Finanzwirtschaft funktionieren kann, sind gerade diese Werte unerlässlich. Scharfsinnig und anschaulich analysiert der Philosoph Dr. Richard David Precht, wie das kapitalistische Wirtschaftssystem die Moral der Gesellschaft aufzehrt. Wenn Akteure ausschließlich zweckrational nach der Maxime der Gewinnorientierung vorgehen, verstoßen sie gegen die Gebote, nach denen die Marktwirtschaft letztlich funktioniert. Damit zerstören sie nicht nur den Markt, sondern auch die Normen der Gesellschaft. Richard David Precht warnt insbesondere vor den Gefahren, die mit der wachsenden Abstraktion wirtschaftlicher Prozesse einhergehen. Der Wandel hin zum Agieren am Computer-Bildschirm und zum Entscheiden auf Basis endloser Zahlenkolonnen bietet keinen Raum mehr für Fairness und Vertrauen. Diese sind aber unabdingbare Konstanten verantwortungsvoller Entscheidungen – sei es in der Gesellschaft oder in Unternehmen.
Organisation zwischen Führung und Autonomie: Wo endet die Macht des Mächtigen?
Dezentralisierung und Autonomie, Mitbestimmung und Selbstorganisation sind Begriffe, die aus der Management-Literatur nicht mehr wegzudenken sind. Die Allgegenwart des Netzes belebt die alte Diskussion erneut: Liquid Democracy ist gefragt, der Ruf nach dem Ende von Hierarchie und Autorität wird laut, und Vernetzung ist das Gebot der Stunde. Andererseits: Starke Führung ist ebenso gefragt, Kontrolle wird gefordert – bis hin zum regulierenden Eingriff staatlicher Organe. Erlebt gar das "klassische Management" eine Renaissance? Wie mächtig darf der Mächtige sein und wie darf er seine Macht einsetzen? Eine eindeutige Lösung wird es nicht geben, eine Balance zwischen den Extremen muss immer wieder neu gefunden werden. Die Systemtheorie kann uns vielleicht helfen, zumindest einige Leitplanken zu entwickeln, mit denen wir ein Abdriften in die Extreme des praktisch nicht mehr Beherrschbaren vermeiden können.
Wie trifft man gute Entscheidungen?
Intuition galt im abendländischen Denken einst als die sicherste Form der Erkenntnis, während sie heute als fragwürdige Richtschnur des Handelns belächelt wird. Unser rationales Dogma ist "erst wägen, dann wagen" und "erst denken, dann handeln". Warum urteilen dennoch Unternehmer immer wieder "aus dem Bauch heraus", und wieso verlässt sich Otto Normalverbraucher bei der Wahl eines Lebenspartners auf Gefühl statt Logik? In diesem Vortrag gebe ich einen Einblick in unsere Forschung, die zeigt, dass intuitive Entscheidungen genauso unverzichtbar sind wie Berechnung und Überlegung. Bauchentscheidungen können sogar zu besseren Ergebnissen führen als komplexe statistische Software-Pakete. Weniger ist oft mehr.
Agiles Management: Was wir von Software-Entwicklern lernen können
Die meisten Manager wissen, dass Unternehmen und andere Organisationen komplexe, adaptive Systeme sind. Aber wenige verstehen, was dies für die Art und Weise bedeutet, wie Organisationen geführt werden sollten. Komplexitätsdenken bedeutet, dass ein Spektrum von Perspektiven, die miteinander in Konflikt stehen, wertvoller ist als ein einheitlicher Ansatz. Es erklärt, dass für eine kontinuierliche Verbesserung nicht nur Prognosen und Anpassungen erforderlich sind, sondern auch kreative Erkundung (Exploration). Und es besagt, dass Innovation zumeist durch Exaltation geschieht, d. h. durch Abwandlung bestehender Ideen, sodass sie in einen neuen Kontext passen. Das erfolgreiche Führen von Unternehmen im 21. Jahrhundert erfordert ein Verständnis dafür, wie Komplexität bewältigt und genutzt werden kann. Dieser Vortrag umreißt die Möglichkeiten, wie agiles Management die Entscheidungsfindung verbessern kann – und was Manager von Software-Entwicklern lernen können.