Rückschau auf die 15. Petersberger Gespräche

 

Stephan Huthmacher

 

Der Salon für Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft – zum 15. Mal

Der Kongress beginnt für mich bereits mit dem Passieren der Schranke und der Kontrolle durch die Bundespolizei. Nur geladene Gäste erhalten Zutritt. Nachdem das schwere Eisentor den Weg frei macht, liegt die mich jedes Mal aufs Neue beeindruckende Parkanlage vor mir. In ihrem Zentrum der klassizistische Springbrunnen und dahinter die Villa Hammerschmidt in den ersten Sonnenstrahlen des noch jungen Tages. Beim Gang durch die große Holzpforte begrüßt mich dieser besondere, mir inzwischen vertraute Geruch von Historie und Bedeutung. Ich freue mich, hier zu sein und erwarte viel von dem bevorstehenden Tag.

Der Tag

Es ist Samstag, der 23. September 2023, und die Comma Soft AG lädt zum 15. Mal zu den Petersberger Gesprächen ein, einem interdisziplinären Forum für den Dialog zwischen führenden Vertretern und Vertreterinnen aus Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft. Einem modernen Salon für ein Miteinander auf Augenhöhe, für Inspiration und Weiterentwicklung der eigenen Perspektiven. An diesem atmosphärischen Ort, dem Zweitwohn- und Zweitamtssitz des Bundespräsidenten, ist es mir immer ein großes Anliegen, Entscheider und Entscheiderinnen aus Wirtschaft und Technologie miteinander ins Gespräch zu bringen; nicht um fertige Lösungen zu präsentieren, sondern um über Unfertiges zu sprechen und um stimulierende und inspirierende Denkanstöße zu geben.

Willkommen!

Beschäftigten sich die Petersberger Gespräche im vorherigen Jahr mit der Bedeutung des Perspektivwechsels für ein neues Denken und neues Tun in Wirtschaft, Forschung und Entwicklung, so widmen sie sich an diesem Samstag erneut einem technologisch geprägten Thema. Es lautet: „Füllhorn der Chancen oder ein Feld ungelöster Probleme? Timing und Antifragilität in der Ära von Deep Tech.“

Punkt 9.00 Uhr eröffne ich unseren Kongress und heiße alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer willkommen. In meiner kurzen Begrüßungsansprache stelle ich noch einmal den gedanklichen Rahmen für den Tag vor und widme mich dabei ganz besonders der Bedeutung von Deep Tech für die Zukunftsgestaltung unserer Wirtschaft. Im Zentrum stehen so avancierte Technologien wie die Generative KI mit ihren großen Sprachmodellen und das Quantencomputing mit seinen jede Vorstellkraft sprengenden Rechenmöglichkeiten. Ein Leitgedanke dabei war: „Als ChatGPT Ende des vergangenen Jahres für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, schlug dies ein wie ein Asteroid. Über Nacht wurde eine für die meisten Menschen eher kryptische Technologie zur Alltagstechnologie – und zum medialen Tsunami. Keine Frage: Die KI ist kein vorübergehender Hype, sie ist gekommen, um zu bleiben.“

Die Villa Hammerschmidt (l.), Prof. Hans Uszkoreit zu Generativer KI (r.)
Die Villa Hammerschmidt (l.), Prof. Hans Uszkoreit zu Generativer KI (r.)

 

Generative KI kann nicht alles, aber von Beginn an sehr vieles gut

Wie die Generative KI das erreicht hat, darüber berichtet der erste Redner des Tages. Prof. Hans Uszkoreit schöpft dabei aus beeindruckenden 40 Jahren Forschung im Bereich der Computerlinguistik und KI in den USA, China und in Deutschland. Die Kernbotschaft seiner Ausführungen: Wir stellen zu viele widerstreitende Erwartungen an LLMs (wie die Large Language Models auch genannt werden). Ein solches System „soll explanatory, truthful und kreativ sein, soll sich Sachen ausdenken können, es soll Romane schreiben können und Marketingpläne. Andere sagen, es soll sich nichts ausdenken, sondern bei der Wahrheit bleiben, wenn ich eine Analyse von einer Produktionskette habe, um Gottes willen, bloß nichts ausdenken! […] Wir erwarten von diesem System, das System soll Gott sein.“ Uszkoreit macht hier klar, dass es in der Nutzbarmachung dieser Modelle darum nicht gehen kann und sollte. Der Vergleich hat etwas für sich, denke ich, Gott ist per definitionem unfehlbar, ChatGPT & Co. machen aber noch viele Fehler, sprich Halluzinationen. Dennoch unterstreicht der Computerlinguist der ersten Stunde mit Nachdruck die Potenziale, die in der Individualisierung dieser großen Sprachmodelle liegen und hebt deren vielfältigen Nutzen für die Wirtschaft hervor.

Dr. Andrej Fischer: Generieren & Kritisieren (l.), Raum & Zeit für Begegnungen (r.)
Dr. Andrej Fischer: Generieren & Kritisieren (l.), Raum & Zeit für Begegnungen (r.)

 

Ein Ort der intellektuellen und persönlichen Begegnung

Seiner Keynote folgen im großen Saal der Villa etwa 80 Entscheider:innen aus Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft. Wie in jedem der zurückliegenden 14 Jahre, in denen unser Herbstkongress stattgefunden hat, sehe ich neben vielen mir vertrauten und persönlich bekannten Teilnehmerinnen und Teilnehmern auch neue Gesichter. Man merkt, dass sich viele Teilnehmer kennen: Bereits vor dem Beginn des Kongresses ist die Gesprächsatmosphäre beim Frühstück im Atrium sehr angeregt. Das freut mich sehr. Schließlich ging es mir bei der Initiierung der Petersberger Gespräche vor knapp 20 Jahren genau darum: Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft miteinander in Verbindung zu bringen, sodass sie sich sowohl persönlich kennenlernen als auch in einen inspirierenden und den eigenen Horizont erweiternden Austausch miteinander treten.

Machine Teaching und Nutzen für Unternehmen als datenbasierte Expertensysteme

Folgt man dem Computerlinguisten Uszkoreit, ist die Entwicklung von Generativer KI aktuell in eine Phase getreten, in der es nicht mehr so sehr um die Algorithmen geht, sondern um Machine Education und Machine Teaching: „Was wir im Moment an Fortschritten sehen, ist alles Machine Teaching. Wir geben dem System andere Curricula, andere Materialien, das ist der große Unterschied im Moment, und das ist ein ganz neues Spiel.“ Uszkoreit spielt hier leidenschaftlich auf die steigende Bedeutung der großen, mit Unternehmensdaten trainierten und feingetunten Sprachmodelle für Unternehmen an. Ihre große Stunde schlage hauptsächlich dann, wenn sie die Corporate Knowledge eines Unternehmens auf eine neue Stufe heben.

ChatGPT im praxisorientierten Turbomodus

Dieser pragmatischen Seite der großen Sprachmodelle widmet sich im letzten Vortrag des Vormittags unser KI-Spezialist und Mitglied unseres Executive Managements, Dr. Andrej Fischer. Er verortet ihre Leistungsfähigkeit in einem Bereich, den er den „Armchair Criticism“ nennt: Eine Haltung, aus der heraus das Kritisieren und Urteilen der generierten Lösungsvorschläge die menschliche Problemlösungsfähigkeit enorm beschleunigt.
Konsistenz, Relevanz und Aktualität der generierten Texte von ChatGPT & Co., so Fischer weiter, lassen sich durch sogenannte Retrieval Augmented Generation (RAG) verbessern. Er erläutert, dass es sich bei dieser von Comma Soft häufig angewandten Methode um eine erweiterte Berücksichtigung von Kontextdaten handele. Genauigkeit und Zuverlässigkeit von Sprachmodellen werden durch die Suche in vorher vorbereiteten, mit Unternehmensdaten gefüllten Dokumentenbibliotheken sowie durch die gezielte Anwendung von speziellen Plug-ins deutlich gesteigert. Neben das Höchstmaß an Transparenz und Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse tritt die volle Kontrolle. „So kann ich mir“, so Fischer weiter, „aussuchen, in welchen Bibliotheken gesucht wird, ich kann bestimmen, was darf der User mit seiner Rolle, mit seinen Rechten in den Unternehmen, was darf er überhaupt sehen und was nicht, und das füge ich dem dann hinzu.“ Fischer schwärmt von diesen mannigfaltigen Funktionalitäten, die man in den Basismodellen vergeblich sucht.

Fazit des Comma-Soft-Experten: „Was ChatGPT out-of-the-box schon sehr gut kann, ist […] das gesammelte Wissen dieser Welt aus dem Trainingsmaterial zu nutzen. Und was heute schon geht, sind Agenten, die sehr selbstständig komplexe Softwareprobleme lösen. Die Steigerung der Produktivität im Bereich Softwareentwicklung, Vorbereitung auf Kundentermine, Lösung von Problemen jedweder Art, Recherchearbeiten […] ist phänomenal.“
Natürlich kenne ich die Methode unserer KI-Experten. Es ist für mich aber darüber hinaus – und dazu zählt auch das Feedback, das ich von vielen Teilnehmern erhalten habe – sehr erfreulich zu sehen, auf welches Interesse dieser individualisierte Ansatz trifft. Fischer hat den Gästen der Petersberger Gespräche hier eindrücklich vorgeführt, in welcher neuen Ära der Technologie wir uns mit GenAI befinden und wie Unternehmen dies zum Beispiel für ihr Corporate Knowledge nutzen können. Ganz offen mit Stärken, Schwächen, Potenzial und Risiken. Und genau eine solche Offenheit gehört zum wesentlichen Element der Philosophie unseres Forums: Ein diskursiver, offener Raum, in dem es auch um Abstraktes gehen darf und vielleicht auch um Grenzen der eigenen Vorstellungskraft.

Quantencomputing – die neue Dimension des Computings

Schon bei der nächsten avancierten Technologie wird unsere Vorstellungskraft von der Physikerin, IBM Fellow und ausgewiesenen Quantencomputing- Expertin Dr. Heike Riel auf die Probe gestellt und an ihre Grenzen geführt. Es geht um eine hochkomplexe Berechnung, die selbst mit den leistungsfähigsten der herkömmlichen Computer nicht ausgeführt werden kann. So bräuchte man für die Aufgabe, die Molekularstruktur des Moleküls Hexabenzocoronen zu errechnen, einen Rechner mit einer Leistung von 10 hoch 99 Bits – was mehr Atomen entspricht, als es sie auf der Erde gibt.
Was auf der einen Seite physikalische Grenzen und eine Sackgasse für die klassischen, auf binären Prozessen basierenden Computer darstellt, markiert auf der anderen Seite den Beginn dessen, was in der Forschung die „Quantum Advantage“ genannt wird. Denn ein Quantenrechner, so Riel, würde für die oben genannte Berechnung (lediglich) ganze 500 Quantum-Bits oder abgekürzt Qubits benötigen. Die aktuell von IBM entwickelten Quantencomputer haben derzeit eine Leistung von rund 1.000 Qubits. Schon 2025 erwartet das Unternehmen die Erreichung einer Gesamt-Prozessorleistung von 4.000 Qubits, für 2033 von rund 100.000 Qubits. Sehr beeindruckt bin ich auch von dem folgenden Vergleich. Ausgehend von der exponentiellen Formel 2 hoch 275 geraten wir in Regionen, die noch bis vor Kurzem höchstens der Science-Fiction vorbehalten waren. Riel dazu: „Wenn man 275 Qubits annehmen würde, hätte man mehr Basiszustände, als es sie im beobachtbaren Weltall gibt.“

Die Physikerin zieht das Fazit: „Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass man eine komplett neue Computertechnologie baut, die ganz anders funktioniert. Nicht mehr auf den digitalen Prozessen, sondern auf der Quantenphysik.“

Wozu die „Quantum Advantage“ gut ist

Wenn man bedenkt, dass jedes einzelne weitere Qubit die Leistungsfähigkeit des Quantencomputers verdoppelt, bekommt man eine ungefähre Vorstellung davon, welche komplexen Aufgaben z. B. in Wirtschaft und Forschung durch diese neue Technologie endlich angegangen werden können.

Dr. Riel nennt eine ganze Reihe möglicher Anwendungen. Dazu zählen unter vielen anderen die Materialforschung, die schnellere Medikamentenentwicklung in der Pharmaforschung durch leistungsfähigere Simulationsmöglichkeiten, eine neue Finanztechnologie samt Optimierung von Finanzinstrumenten oder insgesamt die Simulation anderer hochkomplexer Systeme, vor denen unsere derzeitigen Rechnerarchitekturen rein physikalisch kapitulieren müssen. Dr. Riels Einschätzung nach werden klassische Computersysteme weiterhin ihre bisherigen Aufgaben erfüllen. Daneben werde es immer leistungsfähigere Systeme speziell für KI-Anwendungen geben – womit sich der Kreis zu den weiteren Referenten schließt. Gefolgt werde dies von einer neuen Generation von Quantencomputern, deren Architektur durch eingebaute Modularität, neue Kühlsysteme, Miniaturisierung und deutliche Energiereduktion hervorstechen werde.

Dr. Heike Riel über das Quantencomputing (l.), Eindrücke während der Keynotes (r.)
Dr. Heike Riel über das Quantencomputing (l.), Eindrücke während der Keynotes (r.)

 

Podiumsdiskussion – lebhaft und wie so oft viel zu kurz

Die drei exzellenten und hochspannenden Vorträge haben ganz offensichtlich viele Impulse zum Weiterdenken ausgelöst und viele Fragen offengelassen. Das darauffolgende Podiumsgespräch mit den Vortragenden wird jedenfalls vor allem von den Fragen des Publikums gesteuert. Es geht unter anderem um die Macht von generativen Systemen über uns Menschen und ihre Einflüsse auf unser Urteils- und Entscheidungsvermögen. Die Experten empfehlen hier die verstärkte Nutzung der Systeme auch in den Unternehmen und gleichzeitig stete kritische Haltung gegenüber den Ergebnissen.

Auch zum Thema Quantencomputing gibt es im Publikum noch offene Fragen. Der Austausch und eine beginnende Diskussion sind mit der Podiumsdiskussion noch lange nicht zu Ende. Die Diskutierenden nehmen sie mit in die Mittagspause, nur kurz unterbrochen durch das Auftischen des Drei-Gänge-Menüs.

China und das Thema der Mitte

Wie passt das folgende Thema „China“ in dieses thematische Konzert der technologischen Zukunftsmusik? Der langjährige Moderator der Petersberger Gespräche und zugleich renommierte Mathematiker Prof. Heinz-Otto Peitgen liefert in der Vorstellung des nächsten Redners die Antwort. In seiner Gesprächseinleitung zum Interview mit dem China-Kenner, Journalisten und Buchautoren Frank Sieren macht Peitgen die inhaltliche Stoßrichtung seines Interviews klar: Wo steht China als Player, gleichzeitiger Partner und Konkurrent, ja vielleicht auch als (Parade-)Beispiel in dieser rasanten technologischen Entwicklung? Wie soll der Westen mit diesem hochinnovativen erwachten Riesen eigentlich umgehen?

Austausch mit dem Publikum (l.), Prof. Heinz-Otto Peitgen & Frank Sieren (r.)
Austausch mit dem Publikum (l.), Prof. Heinz-Otto Peitgen & Frank Sieren (r.)

 

Mehr Realismus wagen…

Auch wenn es notwendig und richtig sei, die eigenen Werte zu achten, so ist laut Frank Sieren der Gegensatz „Werte oder Wirtschaft“ eine falsche Alternative, „die mit der Realität nichts mehr zu tun hat.“ Seine Hauptthese, die der Interviewpartner immer wieder vorbringt: „Nur wenn wir wirtschaftlich stark sind, sitzen wir überhaupt noch am Tisch“ – über dessen Besetzung wir im Gegensatz zu früheren Zeiten längst nicht mehr allein entscheiden.

Der größte Fehler in der Politik wie auch in der Wirtschaft sei es, den Wettbewerber zu unterschätzen. Das gilt im besonderen Maß auch für China. „Wie kommt es dazu, dass ein Land, das sich ideologisch selbst gefangen hat, dann in wenigen Jahrzehnten zum Innovationszentrum der Welt wird […] und was ist das für ein innerer Wandel, welche Qualifikationen hat man dafür gebraucht, was sagt das über die Eliten aus, die heute in China regieren?“ – auf diese Frage des Gesprächsleiters Prof. Peitgen führt der China-Experte mehrere Gründe an:

  1. Jeder Chinese wisse, wo China einmal stand, und will zu den 27 % Weltmarktanteil wieder zurück.
  2. Eine beispiellose Öffnung und Privatisierung der Wirtschaft unter Xi Jinping inkl. der Schaffung von idealen Rahmenbedingungen für talentierte und exzellent ausgebildete Rückkehrer aus dem Ausland, vornehmlich den USA.
  3. Pragmatismus: Die Chinesen „haben ganz nüchtern gesagt, den Dieselmotor von Audi kriegen sie in der Qualität nicht hin, also lassen wir das und gehen gleich in die Elektroautos, und da wurden sie dann relativ schnell so führend, dass sie nun eigentlich zum ersten Mal in ihrer 1000-jährigen Geschichte die Spielregeln für eine der zentralen Branchen des Westens vorgeben können.“

China begreifen – ein Lehrstück in Ambivalenz und Perspektivwechsel

„Wir müssen lernen, dieses Land in seiner Ambivalenz zu erfassen. Wenn wir das nicht tun, kommen wir immer stärker in die Defensive.“ Daher Sierens Empfehlung, in unserer multipolaren Weltordnung den Perspektivwechsel zu üben: Wichtig sei für uns, zu lernen, warum und wie Menschen in diesen Ländern – das gelte nicht nur für China, sondern auch für andere asiatische und afrikanische Staaten – ticken, wie sie die Welt sehen und welche Interessenschwerpunkte sie haben. Sieren mahnt abschließend: „Wir sind eh schon in der Minderheit, und unser Einfluss wird jeden Tag schwächer.“

Austausch und Zusammenkunft in der Villa
Austausch und Zusammenkunft in der Villa

 

„Wir sind Gott – und dann?“

Geht es im nächsten Vortrag zwar auch um die Rolle von uns Menschen, so konfrontiert uns die letzte Rednerin des Tages doch mit einem uns herausfordernden Perspektivwechsel. Thea Dorn sei, so sagt sie selbst, innerhalb des Rahmens der Petersberger Gespräche als Philosophin, Autorin und Moderatorin „vom ganz anderen Planeten“.

Sprach Prof. Uszkoreit am Tagesanfang davon, dass wir an die großen Sprachmodelle zum Teil derart hohe Erwartungen stellen, als seien sie Gott, so knüpft Thea Dorn am Tagesende wie zufällig an diese Metapher an, indem sie ihren Vortrag „Wir sind Gott – und dann?“ betitelt. Ihren Ausgangspunkt nimmt sie in Bezug auf den heute dominierenden Homo technologicus. Von hier aus schlägt die Philosophin im Verlauf ihres Vortrages die Brücke in das heutige technologische Zeitalter und den Einfluss von Technologie wie der Generativen KI auf uns Menschen, unser Selbstverständnis und unsere Gesellschaft.
Sie leitet den Blick des höchst interessierten Auditoriums auf die Frage nach dem Warum des menschlichen Daseins, das sich in der Menschheitsgeschichte gewandelt habe und immer noch anpassbar scheint.

Der Mensch mit dem großen „M“ und die KI

Einen paradoxen Zwischenschritt zum heutigen menschlichen Selbstverständnis sieht Thea Dorn in der Aufklärung, in der der Mensch, obwohl er nicht mehr im Zentrum des Universums steht, zur letzten Größe wird: Er sei „das Individuum, dem wir Vernunft, Würde, Autonomie, einen freien Willen unterstellen. […] Auf einmal war der Mensch mit dem großen ‚M‘ geboren.“ Und dieses Weltbild habe jahrhundertelang Bestand gehabt und Dissonanzen zwischen religiösem und naturwissenschaftlichem Weltbild ausgehalten.

Mit Blick auf die technologische Entwicklung auch in den Bio- und Neurowissenschaften glaubt die Referentin daran, dass wir gerade dabei seien, dieses Weltbild zu verabschieden. „Stattdessen werden Erzählungen angeboten, dass auch wir Lebewesen letztlich nur Algorithmen sind“ und dass wir unser Hirn nachbauen und simulieren können. Letzten Endes werde das Hirn „als neuronales Netz betrachtet“. Wie dies geschieht, hänge letztlich von der berechtigten Frage ab: „Wie sehen wir den Menschen, wie schauen wir auf uns selbst, wenn wir die Funktionsweise einer Künstlichen Intelligenz, wenn wir neuronale Netze quasi zum Ideal, zum neuen Gott erheben?“ Möglicherweise, so fährt die Philosophin fort, hätten wir mit der entwickelten KI eine neue Gott-artige Instanz geschaffen. Wir verkennen, so Dorn, dabei die Tatsache, dass es sich hier nur um Werkzeuge handelt.

Urteilskraft versus ChatGPT, oder: Wie ein neuer Klerus entsteht

Dorn wirbt in diesem Kontext für die Wiedererstarkung unserer menschlichen Urteilskraft über die Rezeption von Informationen, die uns umgeben, da wir sonst Gefahr liefen, auch unseren Sinn für Plausibilität und Wahrheit zu verlieren. „Liegt es tatsächlich in der Logik dieser Technologie, dass wir den Menschen mit dem großen ‚M‘ […] aufgeben müssen, weil wir erkennen müssen, wir sind defizitäre, neuronale Netze, die leider noch ein paar Probleme haben …“ – „[…] oder wollen wir den Weg, den der Westen vor gut 200 Jahren in Form der Aufklärung beschritten hat, weitergehen?“

Dieses „Gedankenfeuerwerk“, wie Moderator Peitgen die Podiumsdiskussion mit Thea Dorn einleitet, scheint unsere Teilnehmer zu infizieren. Jedenfalls diskutierte das Publikum zum Ende des Hauptprogramms die Thesen sehr intensiv; offenbar hat Thea Dorn mit ihren Gedanken einige Fenster geöffnet. Der für mich beste Beweis dafür, wie fruchtbar der letzte Vortrag war, ist die an den Philosophen Immanuel Kant angelehnte Frage eines Teilnehmers, „ob ein Übermaß an Automatisierung nicht der ‚Eingang [des Menschen] in die selbstverstümmelnde Bequemlichkeit und Unmündigkeit‘“ sei – als das genaue Gegenteil von Kants berühmter Definition „Die Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“.

Damit endet das Hauptprogramm, aber nur, damit sich die Teilnehmenden in Gesprächsrunden oder in Zwiegespräche zurückziehen können, an denen auch ich teilnehme. Anschließend werden wir wie in jedem Jahr zum kulturellen Rahmenprogramm unseres Kongresses aufbrechen. Gemeint ist damit sowohl das gemeinsame Dinner als auch das Konzert des weltberühmten Jazzpianisten Michael Wollny als Programmteil des Jazzfests Bonn.

Thea Dorn mit der philosophischen Perspektive (l.), Austausch und Zusammenkunft in der Villa (r.)
Thea Dorn mit der philosophischen Perspektive (l.), Austausch und Zusammenkunft in der Villa (r.)

 

Hier beschließe ich meine Beobachtung des spannenden und kurzweiligen Kongresstages, bereits in planenden Gedanken an die 16. Petersberger Gespräche 2024.

Stephan Huthmacher